Einer der Hauptkritikpunkte am aktuellen Abschluss im Öffentlichen Dienst in diesem Jahr ist die lange Laufzeit des Tarifvertrages. Warum ist das ein so wichtiges Kriterium?
Von Torsten Sting, Rostock
Im Regelfall beinhalten die Forderungen von Gewerkschaften, dass der Tarifvertrag für eine Länge von zwölf Monaten abgeschlossen wird. In den letzten Jahren gab es die Tendenz zum Abschluss mit längeren Laufzeiten.
Natürlich sollten wir die zeitliche Gültigkeit eines Tarifvertrages nicht dogmatisch betrachten. Nach dem Motto: „Das war schon immer so.“ Es gilt zu überlegen, was im Interesse der abhängig Beschäftigten und der Gewerkschaften ist. Hierzu einige Thesen:
1. Fangen wir mit der Überlegung an, was eine lange Laufzeit für Folgen hat. In diesem Zeitraum gilt die Friedenspflicht, das heißt der Arbeitgeber hat Ruhe in seinem Laden, die Gewerkschaft kann (zumindest nicht legal) zum Streik aufrufen. Der „soziale Frieden“ ist eine wichtige Voraussetzung für die Kapitalisten, um ihre Gewinne einfahren und möglichst weiter steigern zu können. Das ist ein Grund dafür, dass eine lange Laufzeit im Interesse des Arbeitgebers ist. Da wir als GewerkschafterInnen gegensätzliche Interessen vertreten, kann dies also nicht unser Ziel sein.
2. Immer wieder haben Gewerkschaftsspitzen in wirtschaftlich schwierigen Zeiten einem längeren Abschluss zugestimmt. Wir teilen zunächst überhaupt nicht die Haltung vieler GewerkschaftsfunktionärInnen, dass Beschäftigte in Krisenzeiten Verzicht üben sollten. Denn das dient nur dazu, dass die Verluste auf die Beschäftigten abgewälzt werden, während die Bosse „ihre Schäfchen“ ins Trockene bringen. Als Ausgangsbasis für die Forderungen der Gewerkschaften sollte immer die Bedürfnisse der Beschäftigten dienen. Faktoren wie Preissteigerungen sind schwierig vorherzusagen, insbesondere in wirtschaftlich instabilen Zeiten, und es können schnell Reallohnverluste eintreten. Auch innerhalb von schlechten wirtschaftlichen Situationen helfen lange Laufzeiten daher nicht.
3. Wenn die Wirtschaft sich im Aufschwung befindet, muss natürlich der dadurch entstandene größere Verhandlungsspielraum optimal genutzt werden. Doch bei langen Laufzeiten droht den Beschäftigten auch, dass sie von einer positiven wirtschaftlichen Entwicklung abgehängt werden. Es kann bedeuten, dass nach dem Ende einer Krise ein Wirtschaftsaufschwung mit schnell wachsenden Profiten einsetzt, die Löhne aber auf dem Niveau der Krise bleiben und die Beschäftigten in die Röhre schauen.
4. Im Moment werden lange Laufzeiten trotz einer guten wirtschaftlichen Lage abgeschlossen. Mit hohen Prozentzahlen wird der Eindruck vermittelt, es sei viel für uns Beschäftigte heraus gekommen. Wenn man es aber auf die zwei oder inzwischen gar zweieinhalb Jahre berechnet, ist es viel weniger.
5. Ein Risikofaktor für uns Beschäftigte ist auch die Entwicklung der Inflation. Diese war lange sehr niedrig, aber momentan liegt sie wieder über zwei Prozent. Es lässt sich nicht genau vorhersagen, wie sie sich entwickelt. Dazu kommen schnell steigende Mietpreise. Auch eine relativ plötzliche Öl- und Benzinpreiserhöhung ist angesichts politischer Instabilitäten möglich. All das hat Auswirkungen auf den tatsächlichen Lebensstandard. Lange Laufzeiten bedeuten, dass es lange dauern kann, bis wieder die Möglichkeit besteht, solche Preissteigerungen durch entsprechende Lohnerhöhungen wett zu machen.
6. Den Aufbau von Gewerkschaften kann man mit der Entwicklung im Sport vergleichen. Eine gute Leistung im 100 Meter Sprint kann man nur erreichen, wenn man regelmäßig trainiert. Es ist ein längerfristiger Plan wichtig, um zum richtigen Zeitpunkt für den Wettkampf gewappnet zu sein um seine beste Leistung bringen zu können. Eine erfolgreiche Tarifrunde fällt nicht vom Himmel. Viele Spitzenfunktionäre meinen, erst dann zum Mittel des Arbeitskampfes greifen zu müssen, wenn am Verhandlungstisch nichts mehr geht. Dann sollen von jetzt auf gleich, die Belegschaften, „stramm stehen“. Das kann aber nicht funktionieren. Gewerkschaftlich Aktive müssen immer versuchen, möglichst viele Kolleg*innen einzubeziehen, ihnen eine Aufgabe zu geben, sie politisch weiter zubringen. Eben keine „Stellvertreterpolitik“ zu machen und der Masse unserer Mitglieder zu signalisieren, „wir machen das für euch“. Warum sollte man sich dann einmischen? Lange Laufzeiten führen aber dazu, dass über sehr lange Zeiträume wenig Möglichkeiten bestehen, mit Kolleg*innen gemeinsam in Aktion zu treten, wo sie auch das Gefühl haben, dass es um etwas geht.
7. Gerade im Arbeitskampf spürt man, wer wirklich wichtig ist für die Gesellschaft. Das Selbstbewusstsein der Beteiligten steigt, auch über den Streik hinaus. Tendenziell zumindest wird man sich auch im Betrieb eher einbringen, nicht mehr so leicht Überstunden mitmachen, gesellschaftlich auch kritischer sein. Das alles wird es Gewerkschaften leichter machen, Mitglieder zu gewinnen, da die Beteiligten besser verstehen, dass es auf sie ankommt. Es würde auch bessere Möglichkeiten eröffnen, weitere Forderungen zum Thema bei Tarifauseinandersetzungen zu machen. Es wäre zum Beispiel auch möglich, bei einer Tarifrunde in einem Jahr auszurufen, dass es um eine deutliche Lohnsteigerung gehen muss, im nächsten könnte man sich auf die Forderung nach einer Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich, um im übernächsten Jahr wieder eine deutliche Lohnsteigerung zu erkämpfen.
8. Es wird leichter sein, Strukturen aufzubauen. Diese sind wiederum nötig um die nächsten Schritte zu planen und werden die Organisation stärken. Starke Gewerkschaften wiederum können sich auch besser in die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen einbringen. Gegen Rassismus und Sexismus kämpfen, besser gegen Sozialabbau mobilisieren und damit im hier und heute ein besseres Leben erstreiten. Aber sich auch so entwickeln, dass in den Gewerkschaften sich wieder Debatten entwickeln, dass der Kapitalismus nicht das letzte Wort der Geschichte gewesen sein kann.
9. Bei Tarifrunden geht es nicht nur um die simple Frage „wer wie viel bekommt“. Natürlich ist mehr Kohle ein wichtiges Thema. Es geht darum, die Lebensbedingungen zu verbessern und ein höherer Lohn ist dafür eine wichtige Voraussetzung. Aber es geht auch immer um weitergehende, politische Fragen. Warum bekommen diejenigen, die die Arbeit machen so wenig und warum machen die Bosse so viel Profit? Wie könnte die Arbeit anders organisiert werden und welche Forderungen sollten hierfür aufgestellt werden? Ist es nicht Wahnsinn, dass die einen überlastet sind, krank werden wegen Überstunden und die anderen psychisch fertig sind, weil sie keine Arbeit haben und zudem von Bild-Zeitung und Co als Schmarotzer dargestellt werden? Wie kann der Kampf für bessere Arbeitsbedingungen, mehr personal und Arbeit für alle aussehen? Was ist das für eine Gesellschaft in der Streikende von den Medien und bürgerlichen Parteien dafür angegriffen werden, wenn sie für ihre Rechte kämpfen?
10. Fazit. Lange Laufzeiten von Tarifverträgen erschweren es zum einen, dass sich unsere Entgelte und sonstigen Arbeitsbedingungen möglichst schnell verbessern. Sie verkomplizieren zudem den Aufbau der Gewerkschaften, als den Organisationen die dafür eine zentrale Rolle einnehmen. Daher ist es wichtig, dass wir uns nicht nur bei den Forderungen, sondern auch bei den Abschlüssen für kurze Laufzeiten einsetzen. Hierbei sollte im öffentlichen Dienst darauf geachtet werden, Tarifkämpfe zusammenzuführen. Und: selbst, wenn es mal Sinn machen sollte eine längere Laufzeit zu vereinbaren – vielleicht nach einer langen Auseinandersetzung, in der aber ein sehr gutes Ergebnis erstmal gesichert werden soll – sollten die Streikenden selbst diskutieren und abstimmen können, bevor ein Streik abgebrochen wird – in Streikversammlungen und über bundesweite Streikdelegiertenversammlungen.