Wir dokumentieren hier ein Interview aus der jungen Welt vom 17.3.2023 mit einem Kollegen der Post, ver.di-Mitglied und aktiv im »Netzwerk für eine kämpferische und demokratische Verdi«
»Noch gilt keine Friedenspflicht!«
Von David MaiwaldWie nehmen die Post-Beschäftigten das von der Verdi-Tarifkommission akzeptierte Ergebnis wahr?
Als schwaches Ergebnis, das viele verwundert, enttäuscht und auch wütend macht. Man hat sich für die eigentliche Forderung eingesetzt, und 86 Prozent der Beschäftigten waren bereit, dafür in Streik zu treten: Auf zwölf Monate wären 15 Prozent für viele Kollegen nicht mal eine Erhöhung, sondern Reallohnausgleich. Die Laufzeit von 24 Monaten galt erst als inakzeptabel und ist plötzlich in Ordnung. Die Nullrunde 2023 wurde kritisiert und wird jetzt als Lohnerhöhung dargestellt, obwohl es nur eine Einmalzahlung gibt. Dieser Widerspruch wird natürlich wahrgenommen und zurückgewiesen.
Was würde eine Annahme des Ergebnisses bedeuten?
Die Verdi-Führung hat kämpferische Reden geschwungen und behauptet, in den Streik gehen zu wollen. Sie vertritt aber eine sozialpartnerschaftliche Ausrichtung. Vor dem Erzwingungsstreik als Mittel zur konsequenten Durchsetzung unserer Interessen schreckt sie zurück. Die Gewerkschaftsbürokratie fürchtet offenbar eine Eigendynamik und Kontrollverlust über die Beschäftigten.
Verdi schneidet sich ins eigene Fleisch: Viele Kollegen haben erklärt, bei Annahme des Ergebnisses auszutreten. Einige überlegen, in die Industrie zu wechseln. Das würde die Strukturen bei der Post schwächen, bei der nächsten Tarifrunde stünde man schlechter da. Die Urabstimmung läuft nun seit Mittwoch, findet aber im Vergleich zur vorangegangenen – wohl auch aus Kalkül – zügiger statt und erschwert die Debatte innerhalb der Mitgliedschaft.
Diskutieren die Verdi-Mitglieder das Ergebnis?
Es gibt leider keine offenen Debattenräume, nur informelle Messengergruppen. In meinem ZSP (Zustellstützpunkt, lokale Standorte für Sortierung und Zustellung, jW) haben wir gefordert, möglichst flächendeckende Streikversammlungen in allen Belegschaften durchzuführen. Denn noch gilt keine Friedenspflicht! Es hieß, das sei nicht möglich. Eine Betriebsgruppenversammlung durchzuführen wurde mit der Begründung abgelehnt, es gebe kein Interesse in der Mitgliedschaft – dabei kam die Initiative von dort. Gleichzeitig gibt es die volle Breitseite von der Verdi-Führung: Eine Mitteilung nach der anderen lobt das Ergebnis, während in einigen Messengergruppen der Flyer unseres Netzwerks von Verdi-Funktionären gelöscht wurde. Damit macht die Verdi-Führung deutlich, dass eine offene Diskussion über das Ergebnis nicht erwünscht ist.
Wie ist die Einmalzahlung zu bewerten?
1.000 Euro auf die Hand ist zunächst eine Erleichterung. Viele Kollegen wissen aber, und zwar weil Verdi das kommuniziert hat, dass diese Sonderzahlung langfristig weniger Geld in der Tasche bedeutet. Außerdem wird anteilig auf die Arbeitszeit ausgezahlt, was bei Teilzeit- und Abrufkräften zu Unmut führt. Sie kriegen nur einen Bruchteil, obwohl die Preissteigerung alle gleichermaßen betrifft.
Mit der Annahme ließe Verdi zudem die Chance liegen, die Kämpfe bei der Post und im öffentlichen Dienst zu verbinden. Mit gemeinsamen Streiks hätte man die Streikbewegung und die Gewerkschaften als Ganzes stärken können.
Wie würde sich die Annahme auf die Tarifrunde im öffentlichen Dienst auswirken?
Das könnte eine Bürde bedeuten, die die Arbeitgeberseite propagandistisch nutzen und behaupten kann, man müsse sich mit weniger zufriedengeben. Die Tarifforderung von 500 Euro plus im öffentlichen Dienst ist völlig richtig und geht ja über die eigentliche Forderung bei der Post hinaus. Verdi könnte schnell dazu übergehen, solche Forderungen unter den Tisch fallen zu lassen. Obwohl auch viele Kollegen im öffentlichen Dienst eine breite Durchsetzung fordern.